Redaktion andererseits: „Wer Inklusion nur als Risiko sieht, wird nicht weit kommen“
Beratung & Soziales
Inklusive Arbeit: Lukas Burnar, zweiter Gesellschafter und Geschäftsführer des inklusiven Mediums andererseits im Interview.
Als andererseits am 12. Dezember 2022 die Doku „Das Spendenproblem“ über die ORF Show Licht ins Dunkel veröffentlichte, löste das mediale, gesellschaftliche und sogar politische Diskussionen bis in den ORF aus. Dabei ist die Kritik an der Charity-Show nicht neu, nur fand sie bislang kaum Medienecho. Doch andererseits füllt nicht nur eine Informationslücke im Journalismus. Das junge Unternehmen ist auch ein gutes Beispiel für eine inklusive Unternehmensstrategie.
Sichtweisen: Wie sieht der Arbeitsalltag bei andererseits aus?
Lukas Burnar: Unsere wichtigste Sitzung ist die Redaktionssitzung jeden 2. Donnerstag. Dort trifft sich die Redaktion und bespricht laufende Recherchen. Hier werden auch Aufträge vergeben. Nicht-redaktionell Arbeitende treffen sich separat, etwa um Events zu organisieren. Bei uns wird viel im Team gearbeitet. Wir haben ein eigenes Modell entwickelt, wo Redakteur:innen mit und ohne Behinderung gemeinsam arbeiten. Bei der Co-Autor:innenschaft recherchieren und erstellen sie den Text gemeinsam. Bei der unterstützten Autor:innenschaft ist der:die Redakteur:in mit Behinderung federführend und gibt die Perspektive vor und wird dort wo benötigt von der anderen Person unterstützt.
Also wie eine Arbeitsassistenz, die „verlängerter Arm“ ist?
Genau, nur bewusst von Leuten mit journalistischer Erfahrung. Manchmal unterstützen die mehr beim Tippen und manchmal eher bei journalistischen Prozessen wie dem Einordnen von Informationen oder dem Heranziehen weiterer Quellen.
Die Teamarbeit hat also auch einen Bildungsaspekt?
Ja, denn Ausbildungen im Journalismus sind nicht inklusiv gestaltet. Deshalb versuchen wir so einen Austausch von Wissen und Qualifikation zwischen den Redakteur:innen zu fördern, weil jede:r unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen im Journalismus mitbringt. Wir würden auch gern ein eigenes Ausbildungsprogramm schaffen, weil man für die vorhandenen meist Matura braucht, was Menschen mit intellektueller Behinderung nur selten haben. So ein Programm ergibt aber nur Sinn, wenn wir dann eine sichere Arbeitsstelle bieten können. Und dafür brauchen wir eine stabile Finanzierungsbasis.
Wie schafft man Finanzierung für inklusive Projekte wie andererseits?
Aktuell bezahlen wir unsere Redakteur:innern auf Honorarbasis. Unsere Redaktionsleitung ist fix angestellt, weil sie sich um die inklusive Gestaltung der Arbeitsprozesse kümmert. Das ist wichtig, um unterstützende Strukturen aufzubauen. Für unsere drei Hauptziele (Inklusion, unabhängiger Journalismus, faire Arbeit) wäre es wahnsinnig wichtig, fixe Anstellung zu schaffen. Dafür arbeiten wir an einer breiten und diversen Finanzierungsbasis, etwa durch gesponsorte nicht-redaktionelle Events für die Community oder durch ein temporäres Förderprogramm der Stadt Wien. Unser primärer Fokus liegt aber auf den Leser:innen, die uns durch ein Abo regelmäßig mit kleinen Summen unterstützen. Damit können wir unabhängig berichten, faire Arbeit bieten und den Arbeitsalltag inklusiv gestalten.
Was können Arbeitgeber, die lieber Ausgleichstaxe zahlen von euch lernen?
Den Mehrwert von inklusiver Arbeit! andererseits ist bewusst kein Sozialprojekt, sondern ein Unternehmen mit sozialem Aspekt und ein innovatives Projekt, das funktioniert und wächst. Wir sehen, dass die Arbeit unserer Redakteur:innen einen Mehrwert hat, für den Leute bereit sind zu zahlen. Außerdem zeigen wir was alles möglich sein kann, wenn man die Bereitschaft hat, Prozesse zu überdenken. Wer inklusiver werden will, muss sich einer Grundsatzdiskussion stellen und Inklusion als Teil der eigenen Unternehmensstrategie formulieren, ähnlich wie mit Nachhaltigkeit oder Klimazielen. Gleichzeitig muss man nicht sofort alles perfekt machen. Auch wir sind nicht in allen Bereichen dort, wo wir sein wollen. Wer Inklusion aber nur als Risiko sieht, wird nicht weit kommen. Es fehlt auch an Bewusstsein darüber, was alles möglich ist und welche Mittel und Wege es gibt. Wenn ich etwa einen höhenverstellbaren Schreibtisch kaufen will, dann gibt es Förderungen vom AMS. Außerdem haben in Österreich ca. 18 Prozent der Menschen eine Behinderung. Rein wirtschaftlich wäre es fahrlässig Produkte nicht barrierefrei zu gestalten und alle diese Talente bei der Personalsuche auszuschließen.
Aus der Perspektive des inklusiven Arbeitgebers: was waren für euch Herausforderungen?
Als wir aus unserem ehrenamtlichen Experiment letztes Jahr ein Unternehmen gemacht haben, mussten wir uns einer Grundsatzdiskussion stellen. Wer wird zuerst angestellt, wofür geben wir zunächst Geld aus? Diese Fragen im Team zu diskutieren braucht Zeit und Sorgfalt, wenn man Inklusion ernst nimmt. Eine andere Herausforderung ist für uns außerdem die Verrechnung. Viele Menschen mit Behinderungen erhalten Sozialleistungen und dürfen nur bis zu einer gewissen Summe oder gar nichts dazuverdienen. Für Menschen mit intellektuellen Behinderungen in Werkstätten ist es schwierig im Nebenerwerb Neues auszuprobieren. Wir würden gerne unseren Redakteur in Deutschland anstellen, aber der müsste seinen Platz in der Werkstatt zurücklegen. Wenn die Anstellung nicht funktioniert, wartet er mehrere Jahre auf einen neuen Platz.
Was könnte der Staat besser machen?
Es braucht mehr Flexibilität in dem System, etwa indem man Zuverdienstgrenzen aufweicht. Wer bei uns schnuppern will, kann das meist, aber es sind immer Sonderlösungen. Hier braucht es systemische Veränderungen. Ein anderer Punkt sind Förderungen und Beratung darüber. Es gibt zwar Förderungen, aber sich einen guten Überblick zu verschaffen und informierte Berater:innen zu finden ist gar nicht so einfach. Ich glaube auch, dass man den Austausch zwischen inklusiven Unternehmen und jenen, die es noch werden wollen, fördern sollte. Beispiele aus der Praxis könnten falsche Vorstellungen und Barrieren abbauen. Auch die Ausgleichstaxe wäre ein wichtiger Hebel.
Was habt ihr als Arbeitgeber:innen bisher gelernt?
Wir entwickeln gern Neues mit der Community und haben lernen müssen, wie wir diese Prozesse inklusiv und partizipativ gestalten. Weil uns eine Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen auch auf rechtlicher Ebene wichtig war, haben wir einen Beirat eingesetzt, der bei gewissen strategischen Entscheidungen konsultiert werden muss. Das sind Menschen mit und ohne Behinderungen aus der Redaktion sowie zwei externe Expert:innen. Eine Expertin für den Medienmarkt, die andere für Inklusion. Der Beirat tagt viermal im Jahr und entscheidet bei strategischen Fragen mit. Bei der Entwicklung des neuen Newsletters haben wir mit betroffenen Menschen zusammengearbeitet, damit er Screenreader-tauglich wird. Diese Expertise miteinzubeziehen ist wichtig.
Schön, dass man euren Newsletter mit Screenreader lesen kann! Leider ist es noch immer nicht üblich, dass Nachrichten barrierefrei konsumiert werden können. Gerade Onlinemagazine und Nachrichtenseiten sind für unsere blinden und sehbehinderten Mitglieder oft nicht zugänglich. Wie war euer Prozess hin zu digitaler Barrierefreiheit?
Wir haben auf Standards der digitalen Barrierefreiheit zurückgegriffen, die es schon gibt und auf Expert:innen. Unsere neue Website haben wir mit einem Entwickler gemacht, der auf barrierefreier Webentwicklung spezialisiert ist. Und dann sind wir natürlich auch mit unserer Community im Austausch. Wir laden Abonnent:innen zu Produkttests ein und holen Feedback ein. Communities sind großartig und wir sind sehr froh über unsere, die auch aktiv beiträgt.
Ihr bringt jungen Wind in den Diskurs um Behinderung, etwa durch Schwerpunkte wie zuletzt Rausch, Bildung, Sex und Liebe. Ist das auch eine Vision von euch?
Die Themenauswahl hat sicher viel damit zu tun, dass wir ein jüngeres Team sind. Als Digitalmagazin ist unsere Zielgruppe zudem jünger. Außerdem sind wir sehr stolz, im Medienbereich sowie sozial und unternehmerisch innovativ zu sein und in diesem Tripelpunkt ergeben sich Themen, die für unsere Community spannend sind. Wir wollen raus aus der Nische und behandeln Themen, die gesamtgesellschaftlich wichtig sind. Und hierbei ist die junge Perspektive natürlich eine wichtige. Ich glaube auch wir sind gut darin, komplexe Themen sehr einfach zu erklären. So holen wir Leute in den Diskurs, die sonst nicht teilgenommen hätten, weil ihnen der Zugang verwehrt wurde.
Eure Doku war ein voller Erfolg. Können wir uns auf weitere größere Recherchen einstellen?
Durch unsere Community haben wir einen Zugang zu Themen, die sonst weniger im Vordergrund stehen. Natürlich sind große Reportagen eine Möglichkeit, sich in der Tiefe mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Im Sommer 2023 werden wir daher eine neue Dokumentation veröffentlichen und auch ein weiteres großes Projekt ist bereits in Arbeit. Wir von andererseits glauben aber auch, dass auch Gefühle politisch sind. Deshalb ist eine kleinere Reportage, die Menschen mit einer Behinderung für einen Tag begleitet, schon inhärent politisch, weil ihre Lebensrealität noch immer so abgekapselt von der breiten Gesellschaft ist. Solche kleineren Formate bieten wir mittlerweile jede Woche auf unserer Website und in unseren Newslettern.
Gibt es etwas, das ihr anderen Arbeitgeber:innen sagen möchtet?
Wir haben gelernt, dass es wichtig ist, Inklusion nicht nur nach außen hin zu denken, sondern auch intern. Wie können wir nicht nur den Newsletter für Leser:innen zugänglich machen, sondern auch den Arbeitsprozess der Erstellung des Newsletters inklusiv gestalten? Besonders auf diesen internen Aspekt wird oft vergessen. Der ist aber bei inklusiven Arbeitsplätzen besonders wichtig, also als Arbeitgeber auf die Bedürfnisse zu achten und flexibel zu sein. Man muss auch nicht das Rad neu erfinden. Es gibt viel Wissen, das man einfach adaptieren muss.
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